Das Geständnis: Erfahrungsbericht einer Tierärztin
In dieser Woche schaffte es ein Facebook-Post einer Tierärztin über ihre ersten Berufsjahre die Leser:innen zu erschüttern und zu berühren. Zahlreiche Kommentare, die zum Teil ähnlich bewegende Schicksale enthüllten, folgten. Wir haben unser Mitglied Stefanie Augustin gebeten, diesen wichtigen Beitrag auf unserer Webseite veröffentlichen zu dürfen, um noch mehr Tierärzt:innen zu erreichen. Wir bedanken uns ganz herzlich für den mutigen und wichtigen Artikel und möchten hiermit alle Kolleg:innen ermutigen bei Missständen jedweder Art das Gespräch zu suchen.
Sieben Jahre ist es jetzt her!
Sieben Jahre, dass ich frohen Mutes und ohne böse Vorahnung zur Kontrolle zum Frauenarzt gegangen bin.
Sieben Jahre, dass ich voller Ungeduld auf den Bildschirm des Ultraschallgerätes geschaut habe, um mein Kind zu sehen. Wie groß es wohl schon sein würde?
Sieben Jahre, dass mein Frauenarzt die schrecklichen Worte sagte: “Ich kann keinen Herzschlag finden.”
Ich schreibe heute nicht wegen der Fehlgeburt darüber. Heute schreibe ich aus einem anderen Grund:
Notbremse
Es ist sieben Jahre her, dass mein erster Gedanke nicht war, „Oh Gott, mein Kind ist tot“, sondern, „Oh Gott, ich muss wieder arbeiten“! Es ist jetzt sieben Jahre her, dass mein Körper für mich die Notbremse gezogen hat.
Und genau deshalb schreibe ich heute darüber. Wegen der Studierenden, die alles geben um ihr Studium zu bestehen. Wegen der jungen Kolleg:innen, die ihr Studium gerade abgeschlossen haben und in diesen eigentlich so schönen Beruf starten wollen. Wegen all den Kolleg:innen, die denken, sie stehen alleine da. Ich möchte meine Geschichte mit euch teilen, um euch vorsichtig zu machen, euch nicht verheizen zu lassen.
Start voller Hoffnung
Im März 2012 habe ich mein Studium beendet. Voller Motivation und voller Vorsätze. Ich würde mich nicht unter Wert verkaufen, wie ich es so oft schon gelesen habe. Die Ernüchterung folgte zügig. Mit jeder Absage etwas mehr. Dann habe ich endlich die erste Stelle gefunden. Darauf möchte ich aber gar nicht genauer eingehen. Denn das hat einfach leider nicht gepasst.
Also hab ich mir noch während der Probezeit etwas anderes gesucht. Und stellt euch vor, wie stolz ich war, als ich direkt beim Bewerbungsgespräch ohne Bedenkzeit per Handschlag die Stelle bekommen habe. Zwei Wochen später, Mitte Oktober, sollte ich anfangen. Ich dachte, “wow muss ich mich gut verkauft haben”. Also habe ich die alte Stelle gekündigt und in der neuen angefangen. Mit viel neuer Motivation, aber ohne den Vertrag vorher gesehen zu haben!
Meine neue Stelle war in einer Pferde- und Kleintierklinik mit angeschlossener Nutztierpraxis. Also bot sich mir die Chance in allen Bereichen etwas zu lernen. Neben dem Chef waren mit mir noch eine Tierärztin in Teilzeit und eine weitere in Vollzeit angestellt. Also bin ich davon ausgegangen, dass ich alle drei bis vier Nächte Dienst haben würde sowie die Wochenenden entsprechend. Die erste Ernüchterung kam also mit dem Vertrag. Denn auf dem Mustervertrag der Kammer war handschriftlich noch vermerkt, dass ich jede zweite Nacht und jedes zweite Wochenende Dienst habe, denn die beiden Kolleginnen machten keinen Dienst (keine Kritik an den Kolleginnen, sondern ich wusste es einfach nicht). Trotzdem war ich noch guter Dinge. Es würde schon werden.
Erste Schatten
Doch schon im Dezember sah die Welt anders aus. Bereits da nahm mich das Ganze so mit, dass mir mein Mann auf dem Weihnachtsmarkt ein Sorgenpüppchen schenkte, als Geste um mir Trost zu spenden. Und das obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Nachtdienste gemacht hatte. Das sollte ich erst anfangen, wenn ich etwas mehr Erfahrung habe. Doch es gab dennoch schon genug Situationen, die mir zugesetzt haben. Wenn er mich beispielsweise vor dem Kunden anraunzte und mir vorwarf, ich würde die Grundlagen der Anatomie nicht kennen und ich wohl im falschen Beruf wäre (man muss dazu sagen, dass ich die Gelenkverbindung zwischen Humerus und Schulterblatt als Schultergelenk benannt habe. Seiner Meinung nach wäre das aber das Buggelenk und die Verbindung zwischen Schulterblatt und Brustkorb das Schultergelenk).
Auch das Arbeitspensum steigerte sich, denn im Januar beginnt jährlich die Stutensaison. Der Chef hatte nicht nur selbst eine größere Anzahl an Stuten, sondern vor allem auch viele Reproduktions-Kunden. Mein Standardarbeitstag ging also über zehn bis zwölf Stunden. Meist ohne Mittagspause versteht sich.
Ab ungefähr April sollte ich dann mit Nachtdiensten starten. In einem Wutanfall schmiss er mir an den Kopf, ob ich wohl nichts lernen wollte, weil ich immer noch keine Dienste machen würde. Also fuhr ich nur noch jeden zweiten Abend nach Hause. Die Nachtdienste verbrachte ich in der Assistentenwohnung der Klinik. Wochenenddienste trat ich Freitagmorgen an und verließ die Klinik am Montagabend.
Es spitzt sich zu
Ich kam immer schlechter zur Ruhe und schlief immer schlechter. Immer häufiger zeigte ich psychosomatische Symptome. Mir war morgens übel und ich war froh, wenn ich mich übergeben musste, denn das war ein Grund mich krank zu melden. Doch ich blieb.
Ich blieb auch als die Symptome deutlicher wurden. Ich bekam zum Beispiel schlechter Luft. Ich blieb auch, als immer häufiger der Gedanke kam, dass es gar nicht so schlimm wäre, wenn mich die dreijährige Stute, die ich nachts um 00 Uhr alleine im Stand zur Follikelkontrolle für die TG-Besamung (Tiefgefriersperma) schallen musste, erwischen würde. Oder wenn ich von der Straße abkäme, dann könnte ich zumindest zur Ruhe kommen. Ich blieb, obwohl ich um jeden Urlaubstag kämpfen musste. Denn von spätestens Februar (eigentlich eher Januar) bis Juli war Urlaubssperre wegen der Stutensaison und in den Schulferien musste ich der Kollegin den Vortritt lassen. Naja, und in der Weihnachtszeit Urlaub zu wollen, wäre ja ganz unverschämt.
Etwa im Juni war ich soweit, dass ich zu meinem Hausarzt gegangen bin und ganz klar gesagt habe, dass ich nicht mehr kann und eine Woche Ruhe brauche und er nahm es zum Glück ernst. Er wollte mich deutlich länger rausnehmen, doch ich hatte Angst. Angst, dass mein Chef mir an dem Wochenende, an dem wir Polterabend halten wollten, einen Dienst reindrücken würde. Oder ich nochmal um den Urlaub kämpfen müsste, den ich mir für die Hochzeit genommen habe, wenn ich vorher zu lange krank wäre. Aber ich blieb dennoch.
Seine Wutanfälle wurden häufiger, unberechenbarer und auch beleidigender. Richtig gemacht habe ich in seinen Augen nichts. Gar nichts. Zudem war ich in seinen Augen unmotiviert und faul, unkollegial ihm gegenüber, wenn ich mich weigern wollte, den Nachtdienst zu übernehmen, wenn er mir erst Nachmittags Bescheid gab, dass er in dieser Nacht nicht da wäre. Ich war unverschämt, wenn ich auf Bitten der Kollegin den Feiertagsdienst mit ihr tausche. Ich bin davon ausgegangen, dass sie das mit ihm geklärt hätte. Doch den Anschiss habe ich kassiert.
Ich blieb
Ich blieb, bis mich meine Schwangerschaft da rausgeholt hat. Er verabschiedete sich von mir mit den Worten, dass er von mir persönlich enttäuscht wäre, weil ich ihn jetzt in der Stutensaison hängen lassen würde und dass ich nicht glauben bräuchte, ich könnte mich jetzt einfach so neun Monate ausruhen. Er wollte regelmäßig ein Attest als Beleg, dass ich auch noch schwanger wäre. Als hätte er was geahnt.
Warum blieb ich? Weil ich nicht aufgeben wollte. Weil ich wusste, ich möchte irgendwann zurück nach Bayern und zudem nicht so viele Wechsel in meinem Lebenslauf haben wollte. Ich dachte, es sähe nicht gut aus, wenn ich in einem Jahr gleich zwei Stellen wechsle. Und weil ich auch nicht die Zeit gehabt hätte, mich unauffällig woanders vorzustellen. Und wenn er es mitbekommen hätte… das wollte ich lieber nicht ausprobieren.
Beweggründe und Appell an alle
Warum tue ich euch jetzt diesen langen Text an? Ich möchte alle für die Anzeichen sensibilisieren. Im Nachhinein sehe ich, dass ich auf dem direkten Weg in einen Burnout war. Doch in der Situation konnte ich das nicht richtig einschätzen. Deswegen mein Aufruf an euch: ACHTET AUF EUREN KÖRPER! NEHMT IHN ERNST! NOMV* (Not One More Vet) ist momentan, zu Recht, wiederholt ein Thema. Es geht um die hohe Selbstmordrate in unserem Beruf. Nicht nur beeinflusst durch den Druck von Kund:innen, sondern auch durch die Schicksale, die wir mitbekommen und denen wir uns annehmen. Und eben auch durch solche Arbeitsbedingungen.
Welche Lehre möchte ich euch mitgeben? Denkt gut nach, bevor ihr eine Stelle annehmt. Prüft genau, ob es einen Haken gibt und prüft den Vertrag genau. Steht für euch ein! Niemand hat das Recht, euch runter zu machen oder klein zu machen. Auch wenn ihr gerade von der Uni kommt und noch keine Erfahrung habt, seid ihr etwas wert! Wenn ihr merkt, dass es euch zu viel wird, nehmt euch raus. Lasst es nicht soweit kommen, dass eure Gesundheit leidet.
Und an die Arbeitgeber:innen: Achtet (auf) eure Mitarbeiter:innen! Eure Angestellten geben sicher so viel sie können, doch sie sind nicht verpflichtet ihr komplettes Leben in euren Dienst zu stellen. (Ich weiß inzwischen, dass es zum Glück die meisten auch so machen und möchte nicht alle AG über einen Kamm scheren oder gar angreifen).
Jede/r Tierärzt:in, die/der in einen Burnout rutscht oder gar den Selbstmord wählt, ist eine/r zu viel. Auch jede/r Tierärzt:in, die/der diesen eigentlich wundervollen Beruf wegen der Arbeitsbedingungen aufgibt, ist eine/r zu viel.
Danke an die, die bis hierher gelesen haben. Wenn ich nur einem geholfen habe, war es das Aufschreiben wert.
Epilog
Was ist aus mir geworden? Ich hab nach der Fehlgeburt Hilfe gesucht und mein Hausarzt hat mich dabei unterstützt. Ich bin nie wieder in diese Klinik zurückgegangen, sondern war ein ganze Weile krank geschrieben. Ich war in psychologischer Behandlung und mein Mann und ich haben dann unsere Zelte in Niedersachsen abgebrochen und in Bayern neu angefangen. Ich habe eine neue Stelle angenommen. Mit viel Nervosität. Denn wäre es da wieder so verlaufen, hätte ich wohl endgültig den Beruf aufgegeben. Doch dort war es anders. Ein freundlicher und kollegialer Umgangston. Kein blindes Verheizen. Dort blieb ich bis ich wieder schwanger wurde.
Nach insgesamt fünf Jahren im Dienste der eigenen Reproduktion hab ich im Oktober meine jetzige Stelle angetreten und bin dort sehr glücklich. Mein Chef hat schon gezeigt, dass er mir auch ungefragt Rückhalt bietet.
Nachdem ich das in einer Tierärztegruppe gepostet hatte, war ich überwältigt von der Resonanz. Vielleicht sieht sich der eine oder die andere dazu ermutigt, sich ebenfalls zu öffnen. Wir müssen darüber reden! Oder die eine oder der andere bekommt durch meine Geschichte den Absprung. Oder zumindest die Gewissheit nicht allein zu sein.
Stefanie Augustin
Nachtrag
*Not One More Vet= NOMV wurde 2014 in den USA von Dr. Nicole McArthur anlässlich des Selbstmordes einer renommierten Tierarztkollegin gegründet. Die Plattform unterstützt Tiermediziner:innen auf vielfältige Weise. Angebote zur mentalen und finanziellen Unterstützung in Notlagen sowie Seminare zur Stärkung der psychischen Gesundheit mit dem Ziel der Senkung der Suizidrate von Tierärzt:innen.
Auch Studierende an deutschen Fakultäten sind auf das Thema “Mental Health” aufmerksam geworden.
Eine Übersicht über die Kontaktmöglichkeiten ist hier zu finden.
Der Bund angestellter Tierärzte e.V. bietet für seine Mitglieder die Möglichkeit einer telefonischen Beratung an. Melden Sie sich gerne unter info@bundangestelltertieraerzte.de, um einen Telefontermin zu vereinbaren.
Folgende Rufnummern sind 24/7 erreichbar: 0800.1110111 und 0800.1110222
Wir möchten außerdem an dieser Stelle auf den Bericht über das interessante Online-Seminar
Erhöhtes Suizidrisiko auch bei Tierärztinnen und Tierärzten in Deutschland —
Ergebnisse einer Studie zu möglichen Ursachen”
der Berliner Tierärztlichen Gesellschaft aufmerksam machen.