Der Einzug der Telemedizin in die Tiermedizin
Was bedeutet dieses neue digitale Berufsfeld für angestellte TierärztInnen?
Welche Vorteile bieten sich und worauf müssen Arbeitnehmer und Arbeitgeber dabei achten?
Die Corona-Pandemie sorgte in unserer Gesellschaft zwangsläufig zeitweise zu einer gewissen Entschleunigung und in vielen Branchen zu einer Regression. Auf dem Gebiet der Telemedizin wirkt sie allerdings wie ein Katalysator. Aktuelle Stellenanzeigen zeigen ganz klar: Der digitale Markt in der Veterinärmedizin entwickelt sich in Deutschland derzeit rasant.
Hier geht es direkt zum Interview mit Dr. SAM
https://bundangestelltertieraerzte.de/interview-mit-dr-sam/
Welche Bereiche zählen zum Begriff Telemedizin?
Angelehnt an die Einteilung in seinem Webinar „Die digitale Tierarztpraxis“ gibt es laut des Kollegen Björn Becker folgende verschiedene Felder der Telemedizin:
- Telekonsultation: Austausch mit Kollegen und Spezialisten, z.B. auf den Webseiten DiploVets oder Vetradiologie.
- Telemedizinische Sprechstunde des Haustierarztes: Video-Konsultation zwischen HTA und Patientenbesitzer mittels eines Kommunikations-Tools wie z.B. Skype.
- Teletriage: Einschätzung der Schwere einer Erkrankung mit nachfolgender Empfehlung, ob ein persönlicher Tierarztbesuch nötig ist oder ob dem Tier auch zuhause geholfen werden kann. Aktuelle Beispiele: Dr. Sam, FirstVet, Pfotendoctor.
- Telemonitoring: Überwachung eines Patienten per Video von einem entfernten Ort aus.
- Teledokumentation: Mehrere Anwender nutzen gemeinsam eine zentrale Dokumentation der Patientendaten.
Im folgenden Artikel geht es um die Bereiche telemedizinische Sprechstunde und Teletriage.
Welche Vorteile und Nachteile ergeben sich bei Verwendung eines Telemedizin-Angebotes?
Wie ist die Situation in anderen Ländern?
Ein Blick über den Tellerrand zeigt, dass andere Länder wie die USA oder die skandinavischen Staaten im Bereich der Telemedizin im Vergleich zu Deutschland bereits deutlich weiter sind. Das Unternehmen FirstVet startete 2016 in Schweden mit Video-Konsultationen zwischen Tierarzt und Tierhalter und expandierte mittlerweile nach Dänemark, Finnland, Norwegen und Großbritannien. Seit Juni 2020 ist es auch in Deutschland angekommen.
In den USA stellt etwa die Firma Boehringer Ingelheim seit Frühjahr 2020 die App PetPro-Connect zur Verfügung, die den Kontakt zwischen Tierarzt und Tierhalter erleichtern soll. Die Patientenbesitzer buchen sich über die App Termine für Videotelefonate und erhalten automatische Erinnerungen, wenn Impfungen oder Untersuchungen anstehen.
Wie funktioniert das System der Videokonsultationen von Unternehmen wie FirstVet und Dr. SAM?
Das Start-up-Unternehmen Dr. SAM ist der Vorreiter unter den mittlerweile zahlreichen Online-Tierarzt-Angeboten in Deutschland. Ein Interview mit dem tiermedizinischen Leiter gibt es hier: https://bundangestelltertieraerzte.de/interview-mit-dr-sam/. Die Kommunikation läuft über den im Bereich Datenschutz problematischen Anbieter WhatsApp. Die Patientenbesitzer buchen ein Flatrate (29,90€ pro Quartal, Mindestlaufzeit ein Jahr) und können täglich von 8–24 Uhr einen Tierarzt per Video-Chat sprechen. Die Konsultation endet mit einer Behandlungsempfehlung oder der Überweisung zur nächstgelegenen Tierklinik.
Die Plattform FirstVet stellt den Patientenbesitzern eine unternehmenseigene App zur Verfügung. In einem Interview mit Vet-magazin wird eine GOT-konforme Abrechnung bestätigt. Die Preise pro Sprechstunde (in der Regel 10–15 Minuten lang) liegen zwischen 22€ und 25€. Da bis zum 31.07.2020 mit kostenlosen Video-Sprechstunden geworben wurde, war die GOT-Konformität zumindest für diese Zeitspanne nicht gegeben. Auch die seit 14.02.2020 verpflichtend zu veranschlagende Notdienstgebühr von 50€ netto wird nicht erhoben.
Was tut sich außerhalb der Start-ups?
Nicht nur die Teletriage-Unternehmen haben Einzug in den Veterinärmarkt gehalten. Auch diverse Kliniken, Praxis-Ketten und so manche Einzelpraxis bieten mittlerweile Video-Konsultationen in unterschiedlichem Umfang an.
Wie ist die rechtliche Situation?
Die AG Telemedizin der Bundestierärztekammer hat im April 2020 folgende Empfehlungen herausgegeben:
- Bindung des Telemedizinangebotes an eine Praxisniederlassung oder an eine Anstellung bei einem niedergelassenen Tierarzt.
- Es kann keine klinische Diagnose, sondern nur eine Verdachtsdiagnose gestellt werden.
- Eine abschließende Diagnose setzt eine eingehende klinische Untersuchung voraus. (Ausnahmen sind in besonderen Situationen und mit optimaler medialer Unterstützung möglich).
- Arzneimittel, die unter die Verschreibungspflicht fallen, können nicht aufgrund einer telemedizinischen Befunderhebung bzw. – auswertung verordnet werden. (Ausnahme: Folgeverordnungen, denen eine eingehende klinische Untersuchung vorausgegangen ist.)
- Die Abrechnung telemedizinischer Dienstleistungen soll nach der aktuell gültigen
GOT erfolgen.
Was bedeutet der Einzug der Telemedizin in die Veterinärmedizin für Arbeitnehmer?
Die Telemedizin bietet eine neue Arbeitsvariante, die praktischen Tierärzten bisher kaum möglich war: das Homeoffice. Voraussetzung um als Tierarzt im telemedizinischen Bereich arbeiten zu können, ist allerdings eine gewisse praktische Erfahrung, da wichtige Informationen, wie die Palpation und Auskultation und auch Sinneseindrücke, wie der Geruch, die vor allem für Berufsanfänger wichtige Komponenten zur Diagnostik darstellen, hier wegfallen.
Die telemedizinische Betreuung der Patienten könnte außerdem eine Alternative zum häufig in Praxen oder Kliniken ausgesprochenen Beschäftigungsverbot für schwangere oder stillende Tierärztinnen sein. Am Telefon könnte entschieden werden, ob ein Fall in der Praxis vorgestellt werden muss, oder ob beispielsweise eine Ernährungsberatung per Videosprechstunde möglich ist, die dann von der werdenden Mutter ohne jedes Gefährdungspotential von zuhause aus durchgeführt werden könnte.
Die Flexibilität der Arbeitszeit hängt vom Arbeitgeber ab, dürfte aber im Vergleich zu den üblichen Arbeitszeiten in der Praxis/Klinik erhöht sein. Da Plattformen wie Dr. SAM mit »24/7« werben, muss aber auch mit Arbeitszeiten außerhalb üblicher Praxisöffnungszeiten gerechnet werden. Insbesondere, wenn die Tätigkeit bei einer digitalen Plattform zusätzlich zu weiteren Jobs ausgeübt wird, muss auf die Einhaltung der gesetzlich festgelegten Ruhezeit von elf Stunden täglich geachtet werden.
Und grundsätzlich gilt: TierärztInnen dürfen sich nicht unter Wert verkaufen.
Arbeitsangebote von etwa 13€ pro Konsultation, wie sie derzeit geboten werden, mögen in Ordnung sein, wenn die Arbeitszeit wirklich nur zehn Minuten betrüge. Wird aber die Vor- und Nachberatung des Falles ebenfalls vergütet (Dokumentationspflicht)? Der transparentere und planungssicherere Weg ist die Zahlung nach Stundenlohn. Die Vergütung in Zeiten außerhalb normaler Praxiszeiten sollte zudem angehoben werden. Die Entgelt-Tabelle für Tierärztinnen und Tierärzte bezogen auf eine 40-Stunden-Woche sowie weitere Empfehlungen zu wünschenswerten Arbeitsbedingungen findet ihr in unseren BaT-Standards.
Findet die Beratung bei einem Telemedizin-Anbieter auf selbstständiger Basis statt, muss zudem eine Berufshaftpflichtversicherung (je nach Anbieter ca. 70–250€ pro Jahr) abgeschlossen werden. Wie hoch der Verdienst dann tatsächlich ausfällt, ist im Vergleich zu einer Anstellung weniger planbar, da er natürlich von der Anzahl der stattfindenden Konsultationen abhängt.
Praktische Probleme und organisatorische Überlegungen
Sicherlich sprechen Angebote wie Whats-App-Chats oder Kontakte über Zoom vorwiegend die technikaffinen Generationen an. Oma Waltraud wird vermutlich mit ihrem Dackel Wasti auch weiterhin lieber persönlich in der Praxis vorstellig werden. Voraussetzung zur Nutzung der Video-Chats ist eine gute Internet- oder Mobilfunkverbindung; beides in vor allem ländlichen Gebieten nicht immer optimal.
Der Tierarzt, der Telemedizin anbieten will, muss sich damit auseinandersetzen in welcher Form er das tun möchte. Whats-App-Videotelefonate sind zwar ein unkomplizierter und häufig genutzter Weg, datenschutzrechtlich aber problematisch. Wie soll die Bezahlung stattfinden? Bereits im Vorfeld z.B. über Paypal oder im Nachhinein als Rechnung? Bei häufiger Nutzung könnte sich sogar eine mittlerweile auch für die Tiermedizin erhältliche spezielle Software lohnen.
Ausblick
Die Erwartungshaltung der Tierbesitzer an zeitliche und räumliche Flexibilität der tierärztlichen Leistung steigt an. Es liegt nun in der Hand der Tierärzte, die seit Jahrzehnten bestehenden Praxisstrukturen aufzulockern und neue Modelle des Managements ins Auge zu fassen. Dabei ist es sicher nicht nötig, nach einem anstrengenden Tag in der Praxis, abends noch zusätzlich Video-Konsultationen anzubieten. Termine zur Video-Sprechstunde in der eigenen Klientel zu regulären Praxiszeiten und nach GOT abgerechnet, sind jedoch eine überlegenswerte Option. Zudem bieten sie Arbeitnehmerinnen die Möglichkeit, die lange Pause, die die Geburt eines Kindes durch die Beschäftigungsverbote in Schwangerschaft und Stillzeit häufig mit sich bringt, zu verkürzen.
Wird die Möglichkeit einer digitalen Sprechstunde nicht genutzt, wird sich ein Teil des Kundenstammes an die genannten Teletriage-Unternehmen wenden. Ein kompletter Verlust von Kunden ist aber nicht zu befürchten, da die Diagnose der meisten Erkrankungen einer gründlichen klinischen Allgemeinuntersuchung durch einen Tierarzt und meist der Einleitung von weiterführenden Untersuchungen bedarf und weder Analdrüsen per Video-Chat ausgedrückt werden können, noch Kastrationen digital durchgeführt werden können. Eine Dezimierung des Gewinnes ist aber denkbar. Da ein guter Umsatz aber eine Voraussetzung für ein ordentliches Gehalt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer darstellt, muss in Erwägung gezogen werden, sich ein Stück weit den Bedürfnissen der Kunden anzupassen.
Dr. Martina Warschau
Dr. Martina Warschau für den BaT
Quellen
https://www.diplovets.com
https://vetradiologie.de
https://vet-webinar.com: 21. April 2020: Die digitale Tierarztpraxis — neue Wege in der Kundenkommunikation, Björn Becker
https://vet-magazin.de/deutschland-magazin/marketing-tierarztpraxis/FirstVet-startet-in-Deutschland.html
https://www.drsam.de
https://www.wir-sind-tierarzt.de/2017/05/telemedizin-zweierlei-mass-fuer-human-und-tiermedizin/
https://vetline.de/index.cfm?cid=3518&documents.id=111539
https://www.boehringer-ingelheim.de/covid-19/schutz-unserer-mitarbeitenden/petpro-connect
https://www.bundestieraerztekammer.de/btk/downloads/Corona/Telemedizin_BTK-Empfehlungen.pdf?m=1585821335