Ein Tarifvertrag für die Tiermedizin? Vorteile für Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen
Die Gefährdung der tierärztlichen Versorgung ist seit einigen Jahren ein zentrales Thema, das die Tierärzteschaft beschäftigt. Hierfür müssen Lösungsstrategien gefunden werden. Wie gelingt es, sowohl den tierärztlichen Notdienst flächendeckend sicherzustellen als auch Arbeitnehmendenrechte zu schützen und angestellte Tierärzt:innen langfristig im Beruf zu halten?
Folgender Text stellt die Vorteile eines Tarifvertrages dar, in dem sowohl die Interessen der Arbeitgebenden als auch die der Arbeitnehmenden Platz finden.
Definition Tarifvertrag
In einem Tarifvertrag werden die Inhalte und Bedingungen von Arbeitsverhältnissen innerhalb einer Branche (sog. Flächentarifvertrag) oder eines Unternehmens (sog. Firmentarifvertrag) festgelegt. Er wird zwischen den zwei Tarifparteien, der Arbeitgeber:innenvereinigung und der Arbeitnehmer:innenvereinigung (Gewerkschaft) auf Basis des Arbeitsrechts geschlossen.
Dem Prinzip der Tarifautonomie folgend, nimmt der Staat dabei keinen Einfluss. Die Einhaltung der Vereinbarungen erfolgt unmittelbar und zwingend sobald ein Arbeitsverhältnis vertraglich abgeschlossen wird, sofern beide Parteien Mitglied in der entsprechenden Vereinigung sind. Endet der Tarifvertrag, gelten die Arbeitsbedingungen für die Angestellten noch so lange weiter, bis eine neue Vereinbarung getroffen ist.
Unter bestimmten, sehr klar definierten, Bedingungen können Tarifverträge vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales auch für allgemeinverbindlich (und damit unabhängig von Mitgliedschaften) erklärt werden.
Situation in der (Tier-)Medizin
Für die Humanmedizin gibt es bereits seit 1947 den Marburger Bund als Interessensvertretung der angestellten Ärzt:innen. Zahlreiche Tarifverträge zwischen dem Marburger Bund und Universitätskliniken, kommunalen Krankenhäusern und Privatkliniken regeln die Arbeitsbedingungen von Ärzt:innen.
Die Arbeitsverhältnisse der tiermedizinischen Fachangestellten sind über die Tarifverträge des Verbandes medizinischer Fachberufe e.V. geregelt. Für Tierärzt:innen gab es bislang keine tarifliche Bindung — der allererste Tarifvertrag tritt nun aber am 1.6.24 in Kraft. Hierbei hat als Arbeitnehmendenvertretung der Bund angestellter Tierärzte e.V. mit dem Tiergesundheitszentrum Lichtenau (Arbeitgebendenseite) einen Haustarifvertrag abgeschlossen — ein Meilenstein für die Tiermedizin, der mit intensiver Vorarbeit verbunden war.
Der Bund angestellter Tierärzte e.V. ist tariffähig und würde es begrüßen, wenn sich weitere Arbeitgebendenvereinigungen formieren würden. Weder der Bundesverband Praktizierender Tierärzte e.V. noch die Tierärztekammern können über Tarifverträge verhandeln, da sie sowohl Arbeitnehmende als auch Arbeitgebende vertreten.
Der überwiegende Teil der niedergelassenen Tierärzt:innen arbeitet in Einzelpraxen mit wenigen Mitarbeitenden und nur ein kleiner Teil der insgesamt praktisch tätigen Tierärzt:innen arbeitet in großen Kliniken. Auch die Bildung von Betriebsräten ist in der Tiermedizin bisher wenig bekannt, für Arbeitnehmende aber ein legitimes, demokratisches Instrument, über das die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden nachhaltig positiv beeinflusst werden können.
Vorteile für Arbeitgeber:innen
Für Arbeitgeber:innen ergeben sich aus einem Tarifvertrag entscheidende Vorteile. Sie haben für den Zeitraum der Laufzeit des Tarifvertrages finanzielle Planungssicherheit, d.h. die anfallenden Personal- und Betriebskosten können exakt berechnet werden. Einheitliche, wettbewerbsfähige Regelungen z.B. zur Qualifikation der Mitarbeitenden oder zu Betriebsinvestitionen können insbesondere in Tarifverträgen mit mehrjähriger Laufzeit festgelegt werden. Aus dem Wegfall von Einzelverhandlungen mit Arbeitnehmer:innen resultieren Zeit- und Arbeitsersparnis und ein verbessertes Betriebsklima, da für alle Mitarbeitenden dieselben Arbeitsbedingungen gelten.
Besonders interessant für die Tiermedizin dürften die Öffnungsklauseln sein, die die Umgestaltung der gesetzlichen Vorgaben und die Anpassung an die jeweilige Tätigkeit ermöglichen (z.B. Verkürzung von Pausenzeiten oder Ruhezeiten im Notdienst). Mitglieder eines Arbeitgeber:innenverbandes haben zudem Anspruch auf Beratung, z.B. in Belangen des Arbeitsrechtes und genießen Schutz vor empfindlichen Strafen bei Verstößen gegen das ArbzG.
Nicht zuletzt haben Betriebe, in denen die Tarifbedingungen gelten, eine positive Ausstrahlung auf Bewerber:innen. Verlässliche und faire Arbeitsbedingungen fördern die Bindung eines Mitarbeitenden an einen Betrieb, die Identifizierung mit dem Arbeitsplatz und dadurch auch Leistungsbereitschaft, Verantwortungsgefühl und Wohlbefinden.
Vorteile für Arbeitnehmer:innen
Für Arbeitnehmer:innen hat ein Tarifvertrag bedeutende Vorteile. Die Zugehörigkeit zu einer Interessenvertretung stärkt die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer:innen und erhöht die Durchsetzungskraft bei der Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Die/der einzelne Angestellte muss selbst keine Gehaltsverhandlungen führen oder grundsätzliche Arbeitsbedingungen mit seiner/seinem Arbeitgeber:in aushandeln. Dem “Gender Pay Gap” wird durch die geschaffene Transparenz endlich wirksam begegnet. Gerade angestellte Tierärzt:innen profitieren hiervon maßgeblich, weil es bislang sehr große Schwankungen bei den vertraglich festgelegten Arbeitsbedingungen gibt.
Die Bindung an den Tarifvertrag reduziert Neid und Missgunst unter den Mitarbeitenden eines Betriebes, da die vorgegebenen Bedingungen für alle klar und transparent sind. Durch einen Tarifvertrag kann sich die/der Angestellte auf die vereinbarten Rahmenbedingungen, u.a. zu Gehalt, Notdienstregelungen, Urlaubsanspruch und Kündigungsfrist verlassen, was für Planungssicherheit im Privatleben sorgt. Bereits bei der Arbeitssuche oder sogar der Wahl eines Berufes weiß ein:e Bewerber:in, worauf sie/er sich einstellen kann. Ist die/der Arbeitnehmer:in in Anstellung, schützt der Tarifvertrag vor einem plötzlichen Wechsel der Arbeitsbedingungen.
Nicht zuletzt sind faire, geregelte und verlässliche Arbeitsbedingungen die Basis für Leistungsbereitschaft, Bindung an den Arbeitsplatz und Zufriedenheit im Beruf.
Aktuelle Situation
Viele Tierärzt:innen sind mit der aktuellen Arbeitsmarktsituation in der Tiermedizin unzufrieden.
Die Arbeitgeber:innen auf der einen Seite beklagen mangelnde Einsatzbereitschaft und hohe Ansprüche der jungen Kolleg:innen. Sie haben, v.a. im ländlichen Raum, vermehrt Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen.
Auf der anderen Seite setzen junge Arbeitnehmer:innen (der Anteil an Frauen in der Tiermedizin steigt stetig) heute andere Prioritäten bei der Arbeitswahl und sind nicht mehr bereit bestehende Arbeitsbedingungen (häufig lange Arbeitstage, wenig Wertschätzung, unbezahlte Notdienste, geringes Einkommen) zu akzeptieren.
Ausblick
Aus den oben genannten Ausführungen wird deutlich, dass Tarifverträge zahlreiche Vorteile für beide Seiten, Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen, mit sich bringt. In vielen anderen Branchen hat sich die Anstellung nach Tarifvertrag seit vielen Jahrzehnten bewährt.
Aktuelle Themen, wie Digitalisierung, Globalisierung, demografischer Wandel, work-life-balance, flexible Arbeitszeitmodelle, Teilzeit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Notdienstregelungen, Praxismanagement, Führungsqualitäten und wirtschaftliche Grundlagen gilt es aufzugreifen und zu diskutieren, um für die Zukunft des tierärztlichen Berufsstandes Lösungen zu entwickeln.
Die Anstellung nach Tarifvertrag, mit der Chance auf Festlegung zeitgemäßer und fairer Standards für beide Parteien, kann die Tiermedizin in eine langfristig stabilere Arbeitsmarktsituation bringen.
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