Trillerpfeifen, Warnwesten und Streiks
Diese drei Attribute reichen aus, um an Gewerkschaften und Tarifverträge zu denken. Antiquiert, nervig und nichts, was mich betrifft, denken sicher viele Tierärzt:innen. Ohne fundierte Informationen und Reflexion zu einem Thema, werden pauschale Bilder und Vorurteile diesem selten gerecht — so auch in diesem Fall.
Herzlichen Glückwunsch
Am 9. April feierte es seinen 75. Geburtstag, das Tarifvertragsgesetz. Damit ist es älter als die Bundesrepublik Deutschland und älter als das Grundgesetz. In ihm wird geregelt, dass und wie Arbeitgebende und Gewerkschaften eigenständig Tarifverträge aushandeln. Als Meilenstein der deutschen Demokratie wurde es 1949 gefeiert, waren doch im Nationalsozialismus freie Tarifverhandlungen verboten.
Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, DGB, strich die Bedeutung am 1. Mai dieses Jahres zum Tag der Arbeit besonders heraus. Es gibt “gigantischen Nachholbedarf in den tariflosen Betrieben und Branchen. Beschäftigte bleiben dort dem mehr oder weniger guten Willen des Arbeitgebers unterworfen. Aber erst Tarifverträge verhelfen Beschäftigten zu ihrem guten Recht, machen sie zu freien Menschen in der Arbeitswelt.”
Krisen, Sicherheitsbedürfnis der Gen Z und Arbeitnehmermarkt
Die angeblich so sprunghafte Generation Z sei wesentlich sicherheitsorientierter als zunächst angenommen, so das Marktforschungsinstitut Sirius Campus aus Köln. Insbesondere die Vielzahl der weltweiten Krisen rund um den Klimawandel, des russischen Angriffskrieges und der Inflation hätten das Sicherheitsbedürfnis der Gen Z weiter gesteigert. Der Sicherheitswunsch als Grundlage einer Bedürfnispyramide manifestiere sich für die Gen Z in einer finanziellen Unabhängigkeit und dem Wunsch nach einem sicheren Arbeitsplatz, z.B. im öffentlichen Dienst.
Die Sicherheit des Arbeitsplatzes und ein guter Verdienst waren in der Vergangenheit in der kurativen Tiermedizin eher nicht gegeben. Ein für Akademiker:innen niedriges Lohnniveau, mangelnder Kündigungsschutz in Kleinbetrieben, fehlende Gespräche zur Mitarbeiterentwicklung und mühsame individuelle Gehaltsverhandlungen verhinderten oftmals positive Entwicklungen.
Erst in jüngster Zeit sieht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, im Fachkräftemangel einen möglichen Motor für eine ansteigende Tarifbindung. “Der zunehmende Arbeitskräftemangel dürfte den Blick der Arbeitgeber dafür schärfen, dass sie im Wettbewerb um begehrte Arbeitskräfte hinreichend attraktive Arbeitsbedingungen bieten müssen. Insofern besteht verhaltene Hoffnung, dass sich Betriebe der Gründung von Betriebsräten und dem Abschluss von Tarifverträgen nicht (mehr) verschließen, wenn sie damit ihre Wettbewerbsposition auf dem kommenden „Arbeitnehmermarkt“ verbessern können.”
Tarifverträge sind “sexy”
Bereits 2012 erklärte Stephan Wilcken vom Arbeitgeberverband Südwestmetall in der Badischen Zeitung: “Ich bin ein großer Freund von Tarifverträgen. Das liegt auch an der Diskussion um den Fachkräftemangel. Geschäftsführer außerhalb des Flächentarifs sehen, dass gute Mitarbeiter in Firmen wechseln, die der Tarifbindung unterliegen (…) — wir müssen die Tarifverträge sexy machen, damit sich mehr Betriebe überzeugen lassen, sie anzuwenden. Das hilft den Firmen und den Beschäftigten.”
Das bestätigte Hermann Spieß, damaliger Chef der Industriegewerkschaft Metall in Südbaden: “Wenn ein Betrieb nach Tarif entlohnt, ist dies eine Art Soziallabel für ihn, was ihm hilft, neue Mitarbeiter zu gewinnen. Das haben viele Chefs noch nicht verstanden.”
Tarifverträge für Frauen
Ob man den Begriff “sexy” heutzutage in der Form angesichts der sensiblen Thematik so noch verwenden würde, sei dahingestellt.
Unabhängig davon bieten Tarifverträge in Branchen mit hohem Frauenanteil vor allen Dingen eines:
enorme Vorteile für Frauen. Höhere Stundenlöhne, Egalisierung der Gender Pay Gap, reduzierte Wochenstunden, mehr Urlaubstage, bezahlte Überstunden, fest vereinbarte Zulagen, um nur einen Teil der Verbesserungen zu nennen.
Mindestens genauso wichtig für weibliche Mitarbeiter sind die fixen Rahmenbedingungen, die planbare Eingruppierung und die verlässliche Stufenregelung, mit der das Gehalt steigt, auch für Kolleg:innen, die weniger gut für sich selbst einstehen und verhandeln können.
That’s new!
Erfahrungsgemäß sind Trends und Entwicklungen in den USA, denen in Deutschland um ein paar Jahre voraus. Vor diesem Hintergrund lässt ein Artikel des Harvard Business Record aus 2023 aufhorchen. Dort heißt es:
“Ein Großteil der amerikanischen Unternehmen hat es versäumt, zwei der größten wirtschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahres miteinander zu verbinden: einen angespannten Arbeitsmarkt und eine zunehmende Organisierung der Arbeiter. Nach mehr als 40 Jahren sinkender Gewerkschaftsmitgliedschaft hat die niedrige Arbeitslosigkeit den Beschäftigten mehr Macht verliehen, und die Zahl der Beschäftigten, die Gewerkschaftswahlen beantragen, hat enorm zugenommen. Zusammengenommen signalisieren diese Trends einen grundlegenden Wandel in der Beziehung der Arbeitnehmer zu ihren Arbeitgebern. Unternehmen, die diese Trends ignorieren, verpassen eine Gelegenheit, eine neue, nachhaltigere und gerechtere Version des Kapitalismus zu entwerfen. Und wenn sie ihren Kurs nicht umkehren, wird ihre kurzsichtige Betrachtungsweise der gewerkschaftlichen Organisierung erhebliche Auswirkungen nicht nur auf die Zukunft unserer Wirtschaft, sondern auch auf unsere Demokratie haben.”
Auch in Deutschland steigen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften. Ver.di verzeichnete 2023 das größte Mitgliederplus, seit Gründung im Jahr 2001. Besonders groß war der Zulauf bei den Jungmitgliedern unter 28 Jahren.
Konsequenzen für die Tiermedizin
- Zu geringe Löhne für Akademiker:innen
- Nachteilige und in Teilen gesetzeswidrige Rahmenbedingungen
- Junge Kolleg:innen, die nicht mehr bereit sind, in veralteten Strukturen zu arbeiten
- Hoher Frauenanteil, der von einer Vertretung ihrer Interessen profitieren würde
- Wunsch nach mehr Wertschätzung und Verhandlungen auf Augenhöhe
Alleine wird niemand die Welt verändern und Tarifverträge fallen nicht vom Himmel, sondern werden eingefordert. Ein hoher Organisationsgrad in Interessenvertretungen wie dem BaT, die sich für Arbeitnehmende stark machen, Betriebsräte, die gegründet werden, um die Interessen in den Einheiten auf Augenhöhe zu vertreten und Tarifverträge, die Rahmenbedingungen und Gehälter festlegen. Dies alles sind legitime Instrumente, die uns in einer freiheitlichen Demokratie zur Verfügung stehen, um positive Veränderungen zu bewirken. NUTZT SIE!
Kostenlose Informationsveranstaltung am 12.06.2024
Am 12.06. fand ein interaktives Webinar zum 1. Tarifvertrag statt, in dem der Vorstand und das Gremium Tarifvertrag des BaT und die Tarifvertragspartnerin Nicole Schreiter, Inhaberin, des TGZ Lichtenau, vom gemeinsamen Weg bis hin zum Vertragsabschluss berichtet haben. Neben der Präsentation ausgewählter Inhalte des Tarifvertrages wurden auch alle Fragen der Teilnehmenden beantwortet. Die Aufzeichnung der Veranstaltung ist hier zu finden.
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