Wo liegen die Ursachen der derzeitigen Krise in der Tiermedizin wirklich?
Am 08.01.2022 wurde mit dem Artikel „Tierärzte am Limit“ auf tagesschau.de die Problematik der Notdienstkrise in der Tiermedizin einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Thematisiert werden unter anderem die hohe berufliche Belastung der Tierärzt:innen, die erhöhte Suizidrate und der akute Personalmangel. Heiko Färber, Geschäftsführer des Bundesverbandes praktizierender Tierärzte (bpt), nennt die Feminisierung der Tiermedizin als einen der Hauptgründe für das Problem. Aus Sicht des Bunds angestellter Tierärzte (BaT) bietet dieser Fokus eine einseitige, unzureichende Erklärung für die über Jahrzehnte gewachsenen Probleme unseres Berufsstandes dar.
Die Belastung in der tierärztlichen Praxis nimmt zu
Völlig richtig ist, dass die Zahl der Haustiere durch die Corona-Krise deutlich angestiegen ist, während gleichzeitig ein Personalmangel in der Tiermedizin besteht und viele Tierkliniken infolgedessen ihren Klinikstatus abgeben, da sie den Notdienst personell nicht auf legalem Wege besetzen können. “Corona ist nur ein Katalysator, das Problem der Überlastung besteht schon seit Jahren”, erklärt Färber im Bericht auf tagesschau.de. Dem ist ebenfalls zuzustimmen. Waren in früheren Jahrzehnten 60–80 Wochenstunden an der Tagesordnung, so ist dies heute nicht mehr denkbar. Seit 1994 setzt das Arbeitszeitgesetz hier Grenzen, deren Einhaltung in jüngster Zeit im Zusammenhang mit der Einführung des Mindestlohngesetzes auch überprüft werden. Darüber hinaus ist die heutige Generation an Tierärzt:innen glücklicherweise nicht mehr bereit, ihre physische und psychische Gesundheit bedingungslos der Arbeit zu opfern.
Ist die Feminisierung wirklich der Hauptgrund für das dysfunktionale System?
Die Ursachen für den Personalmangel werden im tagesschau-Artikel als vielfältig betitelt, was sicher korrekt ist, aber analog zu den Aussagen von Frau Starke, der Präsidentin der Tierärztekammer Nordrhein, wird auch hier der hohe Frauenanteil in der Tiermedizin als Hauptursache hervorgehoben. “Der Anteil der Frauen unter den deutschen Tiermedizinstudierenden liegt bei fast 90 Prozent”, sagt der Geschäftsführer des bpt. Weiter heißt es im Artikel: Vor 30 Jahren ist der Beruf noch deutlich männerdominiert gewesen. Diese Entwicklung bedeutet einen Verlust von Arbeitsstunden, da sich Frauen beispielsweise seltener selbstständig machen und durch Mutterschutz länger ausfallen, da Tierärztinnen direkt nach Bekanntwerden der Schwangerschaft nicht mehr arbeiten dürfen.
Richtig ist, dass Tierärzt:innen nach Bekanntgabe der Schwangerschaft häufig abrupt von den Arbeitgebenden ein Beschäftigungsverbot ausgesprochen bekommen und dies ganz klar eine Belastung und Herausforderung für das Team darstellt. Dieser Zeitraum ist allerdings begrenzt. Nach der Geburt des Kindes schließt sich meist die Elternzeit an, die in Deutschland in der Regel von der Frau übernommen wird. Dies ist einerseits mit dem Stillen zu begründen, das naturgemäß Frauensache ist.
Ein weiterer wichtiger Grund ist allerdings, dass Männer überwiegend besser entlohnt werden als Frauen. Bedauerlicherweise verdienen Männer auch in nicht akademischen Berufen oft besser als angestellte Tierärztinnen. Mit einem durchschnittlichen Stundenlohn bezogen auf das Brutto-Gesamtgehalt, inklusive Umsatzbeteiligung oder Notdienstzuschlägen, von 20,51€ (Quelle: Studie „Arbeitsbedingungen und Berufszufriedenheit angestellter Tierärzt:innen in Deutschland 2020“ von BaT und VUK) und einem daraus berechneten Bruttomonatslohn von 1778€ bei einer halben Stelle, ist eine Kinderbetreuung derzeit kaum finanzierbar. Durch eine angemessene Bezahlung wird es möglich sein, dass auch der Partner einen Teil der Elternzeit übernimmt und die Tierärztin schneller wieder ihrer Arbeit nachgehen kann.
Es geht nicht nur ums Geld
Eine aktuelle Diskussion in den sozialen Medien offenbart ein weiteres, ganz gravierendes Problem. Tierärzt:innen mit kleinen Kindern suchen nach Alternativen zur Arbeit in der kurativen Praxis, da diese in der derzeitigen Form nicht mit dem Familienleben vereinbar ist. Diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist nicht allein von den Frauen zu lösen. Genau an dieser Stelle muss sich etwas ändern, wenn der Weg aus dem Personalmangel gefunden werden soll. Denn der Hauptteil der Tiermedizinstudierenden sind Frauen, die völlig natürlicherweise Kinder bekommen und Familien gründen möchten. An diesen Tatsachen wird sich nichts ändern, also muss sich das Umfeld anpassen, wenn diese wertvollen Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt (wieder) zur Verfügung stehen sollen. Stichwort Job-Sharing, Telemedizin und Unterstützung bei der Kinderbetreuung.
Im neuen Gremium Elternsein sprechen wir genau über diese Probleme und versuchen Lösungsansätze zu entwickeln. Sie finden das Thema auch wichtig und möchten dabei sein? Dann melden Sie sich gerne unter info@bundangestelltertierärzte.de.
Die Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes löst die Probleme nicht
Herr Färber bringt als Lösungsvorschlag, um die Notdienstkrise zu bewältigen, erneut eine Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes ins Spiel, da „mit einer Ruhezeit von elf Stunden gar kein Notdienst möglich ist.“ Es ist richtig, dass derzeit ein Notdienst personell kaum gesetzeskonform besetzt werden kann. Die Folgerung, eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes würde das Problem lösen, ist eine Fehleinschätzung. Ohne Zugeständnisse an die Arbeitnehmer, führt dies in der Folge zur weiteren Abwanderung aus dem Beruf und sogar zu einer Verschärfung des Personalmangels.
Erste Signale der neuen Regierung bezüglich einer Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes zeigen eine gewisse Offenheit — allerdings im Rahmen von Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen. Dies bestätigt uns als einzige reine Arbeitnehmer:innenvertretung in der Tiermedizin, unseren eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.
Kann Personal aus dem Ausland dem Personalmangel entgegenwirken?
Neben der Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes plädiert Herr Färber dafür, dass es einfacher sein müsse, Tierärzte aus anderen Ländern anzustellen. “Wenn Sie einen Tierarzt aus Serbien anstellen, haben sie zwei Jahre Bürokratie am Hals, Tierarztpraxen sind Kleinstunternehmen und damit total überfordert”.
Es spricht nichts dagegen, dass Tierärzt:innen aus anderen Ländern in Deutschland arbeiten, allerdings gibt es auch in Deutschland eine große Anzahl an Kolleg:innen, die lediglich unter den derzeitig herrschenden Bedingungen nicht als angestellte Tierärzt:innen arbeiten möchten. Der Ruf nach einer Vereinfachung der Anstellung ausländischer Kolleg:innen hinterlässt den faden Beigeschmack des Wunsches, die derzeit bestehenden Probleme zu kaschieren. Es bleibt zu hoffen, dass hinter diesem Vorschlag nicht die Absicht besteht, billige (männliche) Arbeitskräfte aufzutun, die in Deutschland heutzutage nicht mehr zu finden sind.
Unsere Lösung: Klare Regelungen und gute Bezahlung
Um dem stetigen Abwandern von ursprünglich hoch motivierten Tierärzt:innen aus der tierärztlichen Praxis entgegenzuwirken, braucht es vor allem eines: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Dazu zählen unter anderem ein dem akademischen Studium angemessenes Gehalt, Zuschläge für Not- und Feiertagsdienste, Bezahlung von Fortbildungen und eine Zahl an Urlaubstagen deutlich entfernt vom gesetzlichen Mindestanspruch. Auch in puncto Wertschätzung und Kommunikation ist in vielen Praxen/Kliniken noch viel Luft nach oben. In der gemeinsam mit dem VUK durchgeführten Studie geht klar hervor, dass die Arbeitszufriedenheit in nicht kurativen Berufsfeldern höher ist, als in der kurativen Praxis.
Wir sind davon überzeugt, dass ein Tarifvertrag in der Tiermedizin der Weg aus der Notdienstkrise sein kann, da durch diesen eine gesetzeskonforme Anpassung der Arbeitszeiten möglich ist, um den Notdienst personell besetzen zu können. Gleichzeitig und dies ist der große Unterschied zur vom bpt angestrebten Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes, wird aber der Ausgleich für diese zusätzlichen Arbeitsstunden vertraglich geregelt, genau wie ein adäquates Gehalt, Urlaubstage und vieles mehr.
Es besteht die berechtigte Frage, wovon diese angemessenen Gehälter, Zuschläge und Fortbildungen von den Praxisinhaber:innen finanziert werden sollen. Die Voraussetzung ist die Ausschöpfung und Anpassung der seit Jahren nicht adäquat angepassten Tierärztlichen Gebührenordnung (GOT). Die zum jetzigen Zeitpunkt angedachte Erhöhung um 20% reicht nicht aus, damit die Arbeitgeber:innen den angestellten Tierärzt:innen die dringend erforderlichen höheren Löhne zahlen können.
Fazit
Die Arbeitsbelastung in der kurativen Praxis ist derzeit extrem hoch und eine Notdienstversorgung in vielen Regionen Deutschlands nur lückenhaft vorhanden. Wir plädieren dafür, die Probleme an der Wurzel zu packen. Die Arbeitsbedingungen für angestellte Tierärztinnen müssen deutlich verbessert werden, um sie nach dem Studium für die kurative Praxis begeistern zu können und sie auch nach der Auszeit zur Gründung einer Familie nicht an praxisferne oder gar berufsfremde Arbeitsplätze zu verlieren.