Die klinische Tiermedizin – ein sanierungsbedürftiger Altbau mit Charme und akuter Einsturzgefahr
Wir bedanken uns ganz herzlich bei unserer jungen Berufseinsteigerin, die uns diesen ehrlichen Einblick in ihren schwierigen Start als praktische Tierärztin gibt. Ebenso wie die im letzten Jahr durchgeführte Umfrage von BaT und VUK zeigt er, dass aktuell noch Arbeitsbedingungen in der praktischen Tiermedizin herrschen, die Kolleg:innen dazu bringen, in ein praxisfremdes Berufsfeld zu wechseln. Es ist Zeit etwas zu ändern. Jetzt! Der BaT legt den Finger in die Wunde: Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen für angestellte Tierärzt:innen.
An alle Kolleginnen und Kollegen, Studentinnen und Studenten und solche, die es vielleicht noch werden möchten …
Der BaT bot mir vor einiger Zeit an, einen Erfahrungsbericht aus Sicht eines “Anfängers” zu veröffentlichen. Ich habe lange mit mir selbst gehadert, ob ich dies tun sollte und welche Konsequenzen für andere und mich daraus resultieren könnten. Wie ihr nun seht, habe ich mich letztendlich dafür entschieden. Dies hat folgende Gründe: Änderung und Besserung braucht immer einen Anstoß, jemanden, der sich traut. Schlussendlich funktioniert das Prinzip aber nur, wenn wir uns alle etwas trauen. Zusammen zumindest den Versuch wagen etwas zu ändern.
Voller Tatendrang in meine erste Anstellung
Ich, 26, habe das Tiermedizinstudium im Ausland im Juli 2020 unter Pandemiebedingungen erfolgreich beendet. Seit August 2020 bin ich approbierte Tierärztin in Deutschland.
Meine erste Stelle in einer großen Kleintierklinik startete ich voller Elan, Tatendrang und Bereitschaft erneut den Wohnort für besagte Arbeitsstelle zu wechseln. Mit dem Hintergedanken, eine Veränderung in Bewegung zu setzen, will ich an dieser Stelle ehrlich sein: Ich wurde bitter enttäuscht.
Eine gute Einarbeitung sieht anders aus
Die Einarbeitung bestand darin, mich vier Wochen mit einer anderen Assistenztierärztin mitlaufen zu lassen und mich danach, nach dem Motto “sink or swim” ins eisige Wasser zu schubsen. Das bedeutete Termine im 15–20 Minutentakt aller Art abzuarbeiten, von Impfungen, über Wundkontrollen bis hin zu Inappetenz seit fünf Tagen. Zusätzlich führte ich die offene Sprechstunde (welche nur laut Homepage nicht mehr stattfand) und versorgte akute Notfälle, die ich natürlich als Berufseinsteigerin nicht selbstständig aus dem Wartezimmer als solche identifizieren konnte. Überstunden für Rücküberweisungen, Fortbildungen außerhalb der Arbeitszeit (2–4h) und keine oder nur kurze “ich geh mal schnell am PC was essen”-Pausen waren bzw. sind in dieser Klinik Alltag.
“Sie finden keinen besseren Job als diesen”
Das Ende vom Lied war eine gebrochene, zutiefst traurige junge Tierärztin, welche sich nach dem 100.000€ Auslandsstudium einiges mehr erwartet hatte als mit Panikattacken auf dem Küchenboden in ihrer Wohnung zu liegen und aus dem Weinen nicht mehr herauszukommen. Fazit des am Tag darauf folgenden Gesprächs mit den Inhabern der Klinik: “Wir haben auch schon gemerkt, dass bei dir Wissenslücken vorliegen, welche du momentan nicht kompensieren kannst. Also entweder machst du jetzt für ein halbes bis ein Jahr die Stationsschicht oder du gehst.”
Ich entschied mich zu gehen. Der Chefin teilte ich dies am Telefon mit. Nach einem Satz von mir hatte diese aufgelegt. Und bis heute frage ich mich, wann genau der Tag kommt, an dem ich diese Entscheidung bereue, da ich laut Aussage der Inhaber “die Chance verspiele, persönlich und fachlich mit meinen Herausforderungen zu wachsen”. Und wenn ich besagte Stelle kündigen würde, fände ich “sowieso keinen anderen Job als Tierärztin, mit anderen Bedingungen.”
Es ist traurig und falsch, dass ich und andere Kolleginnen und Kollegen Erfahrungen wie diese unmittelbar nach dem Studium immer noch machen müssen.
Wann werde ich ankommen?
Aktuell habe ich eine andere Stelle, ebenfalls in einer Klinik. Auch hier will ich ehrlich sein. Die Arbeitszeiten, das Gehalt und das generelle Arbeitsklima lassen mich auch bei dieser Stelle jeden Tag hinterfragen, den Job zu wechseln, in die Industrie zu gehen oder zum Amt. Ich muss Euch sagen, dass ich leider noch nicht glücklich bin. Dass ich leider den für mich perfekten Arbeitgeber:in und Job wahrscheinlich noch nicht gefunden habe. Und dass ich Angst habe. Angst die Arbeitsstelle innerhalb des ersten Jahres erneut zu wechseln, Angst nie anzukommen, nach einem Studium in welches ich so viel Herzblut, Zeit und Geld mit Freude investiert habe. Alles in allem denke ich heute aber: Das gehört vielleicht auch dazu. Und ich denke auch nicht mehr, dies sei ein Eingeständnis des Versagens meinerseits. Nicht ich habe versagt, sondern das System, vom praxisfernen Studium bis zu der Einstellung vieler Arbeitgeber:innen.
Nutzt Eure Chancen
Und damit mein Schlussappell an Euch alle da draußen, Euch angestellte Tierärzt:innen, ob Neulinge oder nicht: Wir sitzen seit ein paar Jahren jetzt schon am längeren Hebel, ohne diesen wirklich zu nutzen! Der demografische Wandel und der Fachkräftemangel lassen offene Stellen in allen Bereichen der klinischen Tiermedizin geradezu aus dem Boden schießen! Deswegen: Seid nicht so naiv wie ich. Lasst JEDEN Arbeitsvertrag vorher von einem Anwalt prüfen. Lasst Euch nicht von leeren Versprechungen wie “Bei uns ist die Weiterbildung zum Fachtierarzt möglich” locken, denn sind wir mal ehrlich, die gibt es an jeder Klinik und in jeder dritten Praxis, und seid Euch über Euren eigenen Wert im Klaren: Ihr habt einen der schwierigsten Studiengänge, die es gibt, abgeschlossen. Ihr seid es Euch selbst und den Arbeitgeber:innen schuldig, Euch nicht mit der aktuellen bpt-Mindestgehalts-Tabelle abspeisen zu lassen. Wir können und sollten mehr verlangen. Mehr Urlaubstage, mehr geregelte Arbeitszeiten und mehr Einarbeitung. Und dies sollten auch nicht nur leere Floskeln auf dem Profil einer Klinik auf einem der diversen Stellenportale sein. Traut Euch was, glaubt es mir, die Situation auf dem aktuellen Arbeitsmarkt lässt dies zu.
Zusammen und nur zusammen könnten wir den alten, geschichtsträchtigen Altbau der Tiermedizin renovieren und vor dem Einsturz retten. Ein einfacher Schritt in die richtige Richtung:
30.04.2021
La veterinaria “La Rubia”
Sie sind an weiteren Erfahrungsberichten interessiert? Stefanie Augustin berichtete in ihrem erschütternden Artikel † Not One More Vet über ihre ersten Berufsjahre, die beinahe in einem Burnout endeten. Eine weitere junge Kollegin beschrieb, wie ihr sukzessive die Freude am Praktizieren genommen wurde und kritisierte offen den Mangel an offener Kommunikation und gewissenhafter Einarbeitung.
Sie sind auch Berufseinsteiger:in und fragen sich, wie es nach der Approbation weitergehen kann? Am 12.05.2021 findet unser kostenloses Online-Seminar “Staatsexamen und was jetzt?” statt. Weitere Informationen dazu gibt es hier.
Die mangelhaften Arbeitsbedingungen sind ein Aspekt des erhöhten Suizidrisikos von deutschen Tierärzt:innen. Unser Bericht über die Vorstellung einer aktuellen Studie zu diesem Thema ist hier zu finden.