Erhöhtes Suizidrisiko auch in der deutschen Tierärzteschaft
Am 14.04.2021 fand ein Online-Seminar der Berliner Tierärztliche Gesellschaft mit dem Titel “Erhöhtes Suizidrisiko auch bei Tierärztinnen und Tierärzten in Deutschland — Ergebnisse einer Studie zu möglichen Ursachen” statt. Über 200 Teilnehmer interessierten sich für das hochrelevante Thema. Durch die Veranstaltung führte Professor Markus Doherr aus dem Institut für Veterinär-Epidemiologie und Biometrie der Freien Universität Berlin.
Wie hoch ist das Suizidrisiko deutscher Tierärzte und Tierärztinnen?
Diese Frage wollten Veterinärmediziner:innen und Psycholog:innen der Universität Leipzig und der Freien Universität Berlin mit ihrer Studie beantworten. Anlass für die Untersuchung waren laut Prof. Dr. Mahtab Bahramsoltani aus dem Institut für Veterinär-Anatomie der Freien Universität Berlin die Untersuchungen anderer Länder, wie USA, Großbritannien, Belgien oder Norwegen, die ein im Schnitt doppelt so hohes Suizidrisiko bei Tierärzt:innen im Vergleich zu Humanmediziner:innen und sogar ein vierfach erhöhtes Risiko im Vergleich zur Normalbevölkerung aufzeigten.
Da ein direkter Vergleich mit den Ergebnissen anderer Länder nicht möglich ist, weil bei Suiziden in Deutschland der Beruf nicht dokumentiert wird, wurde im Jahr 2016 im Rahmen der Dissertation von der ebenfalls anwesenden Tierärztin Kathrin Schwerdtfeger eine Online-Befragung durchgeführt, an der 3154 Tierärztinnen und Tierärzte teilnahmen.
Ergebnisse
Die Studie enthüllte eine überdurchnittliche Motivation, aber auch eine hohe Arbeitsbelastung der Tierärzt:innen. Viele Studienteilnehmer:innen gaben an, sich vor und/oder nach der Arbeit gedanklich schlecht vom Beruf abgrenzen zu können.
Depressionen: Tierärzt:innen hatten eine dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit an einer Depression zu erkranken.
Suizidgedanken: Die Wahrscheinlichkeit, in den letzten zwei Wochen Gedanken an den eigenen Selbstmord gehabt zu haben, war bei Tierärzt:innen zweifach erhöht.
Suizidrisiko: Die Wahrscheinlichkeit für ein erhöhtes Risiko eines Suizids war im Vergleich zur Normalbevölkerung sechs- bis siebenfach erhöht. Es ist anzunehmen, dass die realen Suizidraten in Deutschland denen in anderen Ländern ähneln.
Einen signifikanten Zusammenhang mit Depressionen, Suizidgedanken und einem erhöhten Suizidrisiko ergaben die Faktoren “erhöhte Verausgabungsbereitschaft”, “geringe Entlohnung, Wertschätzung” und “erhöhte Werte für Burnout”.
Welche Ursachen gibt es für die erhöhte Suizidrate in der Tierärzteschaft?
Zunächst wurden die Teilnehmer des Online-Seminars gebeten, mitzuteilen, welches ihrer Meinung nach die Hauptgründe für die überdurchschnittliche Suizidrate bei Tierärzt:innen seien. Die am häufigsten genannten Ursachen waren
- Arbeitsbedingungen
- Arbeitspensum
- Gehalt
- Tierwohl
- Stress
- Perfektionismus
- mangelnde Wertschätzung
In einem Review in der Zeitschrift Veterinary Record von 2010 mit dem Titel “Veterinary surgeons and suicide: a structured review of possible influences on increased risk” von Bartram und Baldwin wurden “persönliche Eigenschaften von Tierärzt:innen, negative Effekte während der universitären Ausbildung”, “arbeitsbedingte Stressoren”, “leichter Zugang zu den Mitteln”, “Euthanasieerfahrungen”, “professionelle und soziale Isolation” sowie “Alkohol- und Drogenmissbrauch” genannt.
Prof. Bahramsoltani fasste zusammen, dass die Studie eine erhöhte Arbeitsbelastung, aber eine geringere Wertschätzung im Vergleich zur Normalbevölkerung aufzeige und das bei einem Beruf mit hohem zeitlichen Aufwand. Belastung und Belohnung lägen somit nicht in einem gesunden Gleichgewicht.
Was sind mögliche Strategien und Maßnahmen, um die Situation für Tierärzt:innen zu verbessern?
Vor der abschließenden Diskussion wurden die Seminarteilnehmer gebeten, anzugeben, was ihrer Meinung nach nötig sei, um eine Verbesserung für die Tierärzteschaft zu erreichen.
Die am häufigsten genannten Begriffe waren
- Bezahlung
- Ausbildung
- Aufklärung
- Wertschätzung/Anerkennung
- Kommunikation
- Tarifvertrag
In der abschließenden Diskussion wurde über weitere Stressfaktoren und mögliche Lösungsansätze diskutiert.
Schein und Sein des Tierärztebildes
Prof. Doherr vermutete als zusätzlichen Stressfaktor auch die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des Berufsbildes als “heilender Tierarzt” mit hohem Ansehen und der davon differierenden Wirklichkeit. Das Bild des Veterinärmediziners in der Öffentlichkeit hat seiner Meinung nach unter anderem durch die Antibiotikaskandale im Nutztiersektor großen Schaden genommen. Tierärztin Kathrin Schwerdtfeger sieht hier insbesondere die Standesvertretungen (BTK und die LTKs) in der Pflicht, das beschädigte Image der Tiermedizin in Deutschland durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit zu verbessern. Denn Veterinärmediziner leisteten wichtige Arbeit für die ganze Gesellschaft. Vermutlich sei einem großen Teil der Bevölkerung nicht bekannt, dass Tierärzte nicht nur im kurativen Bereich arbeiteten, sondern z.B. auch wichtige Aufgaben in der Nahrungsmittelproduktion und der Tierseuchenbekämpfung innehätten.
Prof. Bahramsoltani plädierte dafür, dass bereits Studierende das Gefühl bekommen sollten, dass sie als Tierärzte etwas ganz Wichtiges leisteten, um dieses dann direkt mit in den Berufsstart zu nehmen und auszustrahlen.
Ein wertschätzendes Miteinander ist unverzichtbar
Es wurde ebenfalls der hohe Stellenwert eines wertschätzenden Miteinanders betont. Dabei sei laut Heide Glaesmer die Führungskultur entscheidend. Ein respektvoller Umgang mit den Mitarbeiter:innen und ein gutes Arbeitsklima hält die Diplom-Psychologin für extrem wichtig, nicht nur in der Tierärzteschaft, sondern generell. Die Universitäten sollten außerdem durch das Vorleben von wertschätzendem Verhalten mit gutem Beispiel vorangehen.
Der Vergleich zur Humanmedizin
Neben der mehr oder weniger großen emotionalen Belastung, die die Euthanasien für Tiermediziner:innen bedeuten, gibt es noch weitere Faktoren, mit denen beispielsweise Humanmediziner nicht zu kämpfen haben.
Kathrin Schwerdtfeger berichtete vom moralischen Stress, der entstünde, wenn Tierärzt:innen die erbrachten Leistungen korrekt abrechneten und als Folge schlechte Bewertungen durch Kund:innen erhielten. Während in der Humanmedizin die Abrechnung über die Krankenkassen erfolge, müssten sich Veterinärmediziner:innen direkt mit den Patientenbesitzer:innen auseinandersetzen. Nicht selten werde hier erwartet, dass Leistungen aus Tierliebe heraus durchgeführt oder vergünstigt angeboten würden.
Heide Glaesmer ergänzte einen weiteren Unterschied zur Humanmedizin. Tierärzt:innen würden regelmäßig damit konfrontiert, dass zur Heilung des Tieres nötige Eingriffe aus Kostengründen von den Besitzer:innen nicht gewünscht seien. Das Gefühl, nicht helfen zu dürfen obwohl es möglich wäre, ist ein nicht zu unterschätzender Stressor.
Gespräche mit schwierigen Patient:innen/Besitzer:innen seien sowohl in der Human- als auch in der Veterinärmedizin an der Tagesordnung. Allerdings sei der Bereich der Kommunikation mittlerweile Bestandteil des Humanmedizinstudiums. Ebenso lernten die humanmedizinischen Kollegen naturgemäß in der Ausbildung Krankheitsbilder wie Depressionen oder Burnout kennen. Die veterinärmedizinische Ausbildung hat in dieser Hinsicht noch Nachholbedarf.
Tiermediziner:innen neigen dazu, sich keine Hilfe zu holen
Die vorgestellte Studie zeigte eine erhöhte Verausgabungsbereitschaft von Tierärzt:innen im Vergleich zur Normalbevölkerung. Psychologin Heide Glaesmer schlug vor, dass diese Eigenschaft bereits im Studium thematisiert werden sollte und durch Coachings kontrolliert bzw. kompensiert werden sollte. Auch Psychotherapeut:innen würden sich in schwierigen Fällen Hilfe bei Kolleg:innen suchen. Veterinärmediziner:innen würden allerdings dazu tendieren, dies nicht zu tun. Laut Prof. Bahramsoltani sei dies bereits bei Problemen im Studium erkennbar.
Prof. Doherr ergänzte die Wichtigkeit einer guten Work-Life-Balance und dies, vorbereitend auf den anspruchsvollen Beruf, bereits im Studium. Im Klartext: Eine Veränderung des Tiermedizinstudium ist nötig, kann aber nicht in einem kontinuierlichen Aufstocken von Inhalten bestehen.
Die Arbeitsbedingungen müssen sich verbessern
Es gibt also verschiedene Probleme, mit denen Tierärzt:innen aktuell konfrontiert sind. Mit einigen, wie der emotionalen Belastung durch Euthanasien, müssen Veterinärmediziner:innen leben (lernen).
Wichtig ist allerdings, sich Hilfe zu holen, egal woher die Belastung rührt, bevor die Last zu groß wird. Im Anhang des persönlichen Erfahrungsberichtes “Not One More Vet” von Tierärztin Stefanie Augustin haben wir Kontaktadressen aufgeführt, falls Sie Hilfe benötigen.
Andere Faktoren, die zur großer Unzufriedenheit führen, können aber sehr wohl geändert werden. Das Online-Seminar zeigte, ähnlich wie die vor Kurzem vorgestellte Studie von BaT und VUK zu den aktuellen Arbeitsbedingungen von Tierärzt:innen, dass Themen wie nicht adäquate Entlohnung und mangelnde Wertschätzung im tiermedizinischen Arbeitsalltag immer noch hochaktuell sind.
Hier kommt der Bund angestellter Tierärzte e.V. ins Spiel. Wir möchten aktiv dazu beitragen, die Arbeitsbedingungen angestellter Tierärzt:innen zu verbessern und legen daher den Finger in die Wunde. Dazu brauchen wir vor allem eins: viele Mitglieder, die unsere Arbeit aktiv oder passiv unterstützen. Sind Sie auch unzufrieden und möchten Dinge verändern? Dann lassen Sie uns gemeinsam mehr erreichen.
Wir danken der Berliner Tierärztlichen Gesellschaft und den Vortragenden herzlich für die interessante Veranstaltung!
Sie wollen noch mehr zu diesem Thema erfahren? Die Professorinnen Mathab Bahramasoltani und Heide Glaesmer waren im aktuellen Mensch — Tierarzt-Podcast zu Gast. Einfach mal reinhören.